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1. Beförderung

 

Septimus

Septimus Heap, Außergewöhnlicher Lehrling, erwachte, als seine Hausmaus einen Brief für ihn auf sein Kopfkissen legte. Schlaftrunken öffnete er die Augen, und mit einem Gefühl der Erleichterung erinnerte er sich, wo er war – wieder in seinem Zimmer oben im Zaubererturm. Queste beendet. Und dann fiel ihm ein, dass Jenna, Nicko, Snorri und Beetle noch nicht wieder zu Hause waren. Er setzte sich auf, mit einem Mal hellwach. Ganz gleich was Marcia sagte: Heute würde er hinfliegen und sie zurückholen.

Er griff nach dem Brief und wischte ein paar Mäusekötel von seinem Kissen. Vorsichtig faltete er das kleine Stück Papier auseinander und las:

KANZLEI MARCIA OVERSTRAND,
AUSSERGEWÖHNLICHE ZAUBERIN.
Septimus, ich würde dich gern um Punkt zwölf in meinem Studierzimmer sprechen. Ich hoffe, es passt dir.
Marcia

Septimus stieß einen leisen Pfiff aus. Seit fast drei Jahren war er jetzt Marcias Lehrling, aber noch nie hatte er eine Verabredung mit ihr gehabt. Wenn Marcia ihn zu sprechen wünschte, unterbrach sie ihn gewöhnlich bei dem, was er gerade tat, und fing einfach an zu reden. Und Septimus musste augenblicklich innehalten und zuhören.

Heute aber, am zweiten Tag nach seiner Rückkehr von der Queste, schien es, als hätte sich etwas verändert. Während er den Brief ein zweites Mal las, nur um sicherzugehen, drang von fern der Glockenschlag der Turmuhr im Tuchhändlerhof durchs Fenster. Er zählte die Schläge – elf – und atmete erleichtert auf. Es wäre nicht gut, wenn er zu seiner allerersten Verabredung mit Marcia zu spät käme. Er hatte lang geschlafen, aber auf Marcias Geheiß. Außerdem hatte sie zu ihm gesagt, dass er die Bibliothek heute Morgen nicht sauber zu machen brauche. Er betrachtete den regenbogenfarbenen Sonnenstrahl, der durch die lila Fensterscheibe blinzelte, schüttelte den Kopf und grinste – daran könnte er sich gewöhnen.

Eine Stunde später, bekleidet mit der neuen grünen Lehrlingstracht, die im Zimmer für ihn bereitgelegen hatte, klopfte Septimus höflich an Marcias Tür.

»Komm herein, Septimus«, drang Marcias Stimme durch das dicke Eichenholz. Er stieß die knarrende Tür auf und trat ein. Marcias Studierzimmer war ein kleiner getäfelter Raum mit einem großen Schreibtisch unter dem Fenster und einem Hauch Magie in der Luft, der Septimus auf der Haut kribbelte. An den Wänden reihten sich Regale, die überquollen von abgegriffenen, in Leder gebundenen Büchern, vergilbten, mit lila Bändern verschnürten Papierbündeln und unzähligen braunen und schwarzen Glasgefäßen, deren Inhalt so alt war, dass nicht einmal Marcia recht wusste, was sie damit anfangen sollte. Zwischen den Gläsern entdeckte Septimus etwas, was der ganze Stolz und die ganze Freude seines Bruders Simon war – einen schwarzen Kasten, auf dem in der kringeligen Schrift der Heaps Spürnase stand. Septimus warf verstohlen einen Blick aus dem hohen, schmalen Fenster. Er liebte die Aussicht aus Marcias Fenster – ein atemberaubendes Panorama über die Dächer der Burg hinüber zum Fluss und weiter bis zu den grünen Hängen der Ackerlande. In weiter, weiter Ferne schimmerten verschwommen die blauen Vorberge der Ödlande im Dunst.

Marcia saß hinter dem Schreibtisch auf ihrem sehr abgewetzten – aber sehr bequemen – großen lila Stuhl. Sie bedachte ihren Lehrling, der heute ungewöhnlich gut gekleidet war, mit einem liebevollen Blick und lächelte.

»Guten Tag, Septimus«, sagte sie. »Setz dich doch.« Sie deutete auf den kleineren, aber ebenso bequemen grünen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«

Septimus nahm Platz. »Ja, danke«, antwortete er, etwas argwöhnisch. Warum war Marcia so nett?

»Du hast eine schwere Woche hinter dir, Septimus«, begann Marcia. »Nun ja, das haben wir alle. Es ist sehr schön, dich wieder hier zu haben. Hier ist etwas für dich.« Sie öffnete eine kleine Schublade, entnahm ihr zwei lila Bänder aus Seide und legte sie auf den Tisch.

Septimus wusste, was das für Bänder waren – die lila Streifen eines Oberlehrlings, die er, wenn seine Lehre gut verlief, im letzten Jahr bekam und tragen durfte. Es war nett von Marcia, ihn wissen zu lassen, dass sie ihn zu gegebener Zeit zum Oberlehrling befördern würde. Aber bis zum letzten Lehrjahr war es noch lange hin, und er wusste nur zu gut, dass bis dahin noch allerhand schiefgehen konnte.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Marcia.

Septimus nickte.

»Schön. Sie gehören dir. Ich ernenne dich hiermit zum Oberlehrling.«

»Wie? Jetzt?«

Marcia grinste breit. »Ja, jetzt.«

»Jetzt? Also heute?«

»Ja, Septimus, heute. Ich will hoffen, dass deine Ärmelenden noch sauber sind. Du hast sie beim Frühstück doch nicht mit Ei bekleckert?«

Septimus inspizierte seine Ärmel. »Nein, sie sind sauber.«

Marcia stand auf, und Septimus folgte ihrem Beispiel – ein Lehrling darf nie sitzen, wenn der Meister steht. Marcia nahm die Bänder vom Tisch und legte sie auf die Säume seiner hellgrünen Ärmel. Ein leichter Knall ertönte, eine lila Wolke aus magischem Nebel stieg auf, und die Bänder schlangen sich um die Ärmel und verschmolzen mit der Jacke. Septimus betrachtete sie verblüfft. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Marcia schon.

»Ich muss dich jetzt ein wenig über die Rechte und Pflichten eines Oberlehrlings aufklären, Septimus. Du darfst fünfzig Prozent deiner Projekte wie auch deines Stundenplans selbst bestimmen – mit Sinn und Verstand selbstverständlich. Es kann vorkommen, dass du gebeten wirst, mich bei den Versammlungen auf der unteren Ebene im Zaubererturm zu vertreten – wofür ich dir im Übrigen sehr dankbar wäre. Als Oberlehrling kannst du kommen und gehen, ohne um Erlaubnis zu fragen, allerdings gilt es als höflich, wenn du mir Bescheid gibst, wohin du gehst und wann du wiederzukommen gedenkst. Da du aber noch so jung bist, bestehe ich darauf, dass du an den Wochentagen bis spätestens neun Uhr abends und bei besonderen Anlässen bis spätestens Mitternacht zurück bist, verstanden?«

Septimus, der noch immer die lila Streifen bestaunte, die magisch an seinen Ärmeln schimmerten, nickte. »Verstanden ... glaube ich ... aber warum ... ?«

»Weil du der einzige Lehrling bist, der jemals von der Queste zurückgekehrt ist«, antwortete Marcia. »Und du bist nicht nur wohlbehalten zurückgekehrt, sondern hast deine Aufgabe auch erfolgreich gemeistert. Und was noch unglaublicher ist: Du bist auf diese ... diese schreckliche Reise geschickt worden, bevor du die Hälfte deiner Lehre hinter dir hattest, und trotzdem hast du es geschafft. Du hast deine magischen Fähigkeiten besser zu nutzen gewusst, als es viele Zauberer in diesem Turm jemals erhoffen können. Aus diesem Grund bist du jetzt Oberlehrling. Einverstanden?«

»Einverstanden.« Septimus lächelte. »Aber ...«

»Was aber?«

»Ohne Jenna und Beetle hätte ich die Queste nicht bestanden. Und sie sitzen noch in diesem stinkigen kleinen Fischerschuppen am Handelsposten. Und Nicko und Snorri auch. Wir haben versprochen, unverzüglich wiederzukommen und sie zu holen.«

»Das werden wir auch«, erwiderte Marcia. »Sie erwarten bestimmt nicht, dass wir sofort umkehren und zurückfliegen, Septimus. Außerdem hatte ich noch gar keine Zeit, seit wir zurück sind. Heute Morgen bin ich früh aufgestanden und habe bei Zelda etwas von diesem scheußlichen Heiltrank für Ephaniah und Hildegard geholt – die beiden sind immer noch sehr krank. Und heute Nacht muss ich noch bei Ephaniah wachen, aber gleich morgen früh fliege ich mit Feuerspei los und hole die anderen. Sie sind bald wieder hier, das verspreche ich dir.«

Septimus betrachtete seine lila Streifen, die wunderbar magisch schillerten, wie Öl auf Wasser. Er erinnerte sich an Marcias Worte: »Als Oberlehrling kannst du kommen und gehen, ohne um Erlaubnis fragen, allerdings gilt es als höflich, wenn du mir Bescheid gibst, wohin du gehst und wann du wiederzukommen gedenkst.«

»Ich werde sie holen«, sagte er, indem er prompt den Ton eines Oberlehrlings anschlug.

»Nein, Septimus«, entgegnete Marcia, die bereits vergaß, dass sie jetzt mit einem Oberlehrling sprach. »Das ist viel zu gefährlich. Außerdem bist du noch zu erschöpft von der Queste. Du musst dich ausruhen. Ich werde gehen.«

»Vielen Dank für das Angebot, Marcia«, sagte Septimus etwas förmlich – eben so, wie er glaubte, dass Oberlehrlinge sprechen sollten. »Aber ich habe die Absicht, selbst zu gehen. Ich werde mit Feuerspei in einer guten Stunde losfliegen. Spätestens übermorgen dürfte ich zurück sein, um Mitternacht, denn hier kann man, glaube ich, mit Fug und Recht von einem besonderen Anlass sprechen.«

»Oh.« Marcia bereute, dass sie Septimus so umfassend über seine Rechte als Oberlehrling aufgeklärt hatte. Sie setzte sich und betrachtete ihn mit nachdenklichem Blick. Ihr frischgebackener Oberlehrling schien plötzlich gewachsen zu sein. Seine hellgrünen Augen versprühten eine neue Selbstsicherheit, erwiderten standhaft ihren Blick, und – ja, vorhin, als er hereinkam, hatte sie gleich gemerkt, dass etwas anders war – er hatte sich die Haare gekämmt!

»Soll ich kommen und mich von dir verabschieden?«, fragte Marcia leise.

»Ja, bitte«, antwortete Septimus. »Das wäre sehr nett. Ich bin in knapp einer Stunde unten auf der Drachenwiese.« An der Tür blieb er stehen und drehte sich um. »Danke, Marcia«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Ich danke Ihnen wirklich sehr.«

Marcia lächelte zurück und beobachtete, wie ihr Oberlehrling mit einem neuen federnden Gang das Studierzimmer verließ.

Septimus Heap 05 - Syren
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